Eintrag 3: Über reflektierte Gleichgültigkeit im Zeitalter des Bullshits

Denn ganz allgemein scheint mir ein erfüllendes Menschenleben einer gewissen Gleichgültigkeit nicht entbehren zu können.

Obzwar die langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen der stetig wachsenden Menge an Informationen noch nicht genau absehbar sind, scheinen die ersten Auswüchse mit zunehmender Deutlichkeit hervorzutreten. Die auf der Basis meiner persönlichen Beobachtungen gezogene Schlussfolgerung bezeigt nicht bloß meine kulturpessimistische Grundhaltung, sondern fängt eine weitläufige Intuition meiner Zeitgenossen ein: Das Informationszeitalter hat die Produktion von Bullshit vorangetrieben. Ein in dieser Sache geradezu prophetisches Werk entstammt der Feder des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt, der sich bereits in seinem 2005 veröffentlichten Buch On Bullshit zu der Frage „Warum gibt es so viel Bullshit?“ genötigt sah. Seine kein bisschen an Aktualität eingebüßte Erklärung möchte ich niemandem vorenthalten:

Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen. Die Produktion von Bullshit wird also dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt. Diese Diskrepanz findet sich häufig im öffentlichen Leben, in dem Menschen sich – aus eigenem Antrieb oder auf Anforderung anderer – oft gedrängt sehen, sich eingehend über Gegenstände auszulassen, von denen sie wenig Ahnung haben. In dieselbe Richtung wirkt die weitverbreitete Überzeugung, in einer Demokratie sei der Bürger verpflichtet, Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. Das Fehlen jedes signifikanten Zusammenhangs zwischen den Meinungen eines Menschen und seiner Kenntnis der Realität wird natürlich noch gravierender bei einem Menschen, der es für seine Pflicht als moralisch denkendes Wesen hält, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen. (Frankfurt 2006, S.46)

„Joe Rogan on aliens“ (602.911 Aufrufe), „Elon Musk on sleep time and breakfast” (1,8 Millionen Aufrufe), „Jordan Peterson on climate change” (42.402 Aufrufe) – Es sind Videotitel wie diese, die Frankfurt zu bestätigen scheinen. Offenbar hat die großflächige Internetnutzung durch die moderne Massengesellschaft die Herausbildung an fachfremden Meinungsmachern befeuert, welche sich vorzugsweise auf Plattformen wie YouTube, Twitter und Facebook herumtreiben, um dort ihr gefährliches Halbwissen in die digitalen Weiten des Netzes zu lancieren. Zwei saliente Merkmale solcher Videos bestehen einerseits in der zu den frappanten Aufrufzahlen in krassem Missverhältnis stehenden Banalität, die dem Boulevardismus einer Promiflash-Ausgabe in nichts nachsteht (Wieso sind 1,8 Millionen Menschen daran interessiert, was ein prognosefreudiger Tech-Milliardär zum Frühstück isst?), und andererseits in dem bereits angetönten Dilettantismus (Welche exklusiven Einsichten vermag uns ein klinischer Psychologe in die komplexen Mechanismen des Klimawandels zu geben?) dieser sprichwörtlichen Redefiguren.

Da ich die Gefahr wittere, dass mir die bisherigen Ausführungen als polemischer Angriff auf die Meinungsfreiheit ausgelegt werden, möchte ich dieser allfälligen Verzerrung meiner tatsächlichen Absicht vorbeugen: Nichts liegt mir ferner, als das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung beschneiden zu wollen. Vielmehr erachte ich die Meinungsfreiheit als ein politisches Gut von unschätzbarem Wert, wiewohl ihr alltäglicher Gebrauch mit gewissen Herausforderungen einhergeht. Vor diesem Hintergrund möchte ich natürlich keine prinzipiellen Einwände dagegen erheben, wenn ein Mixed-Martial-Arts-Kommentator in seinem hochbeliebten Podcast über die Möglichkeit von außerirdischem Leben spekuliert. Dies ließe mich nicht nur zurecht als sudernden Miesmacher dastehen, sondern erforderte überdies eine gehörige Portion Heuchelei, zumal ich solche Inhalte hin und wieder selbst konsumiere. Es sei jedoch daran gemahnt, dass es sich bei solcherlei Geplauder oftmals um klassische Fälle von Bullshit handelt, welcher in der bedürftigen Sachkenntnis des Sprechers gründet. Vermutlich wäre mit der kollektiven Bewusstwerdung dieses Umstands bereits viel gewonnen. Anders gewendet: Verantwortungsvoller Internetkonsum setzt voraus, dass man die moralphilosophischen Einlassungen eines ehemaligen Teilnehmers von „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ zur Ukraine-Krise als das betrachtet, was sie sind.

Doch genug hiervon. Fürwahr könnten meine bisherigen Ausführungen insofern als wortreicher Mäander gescholten werden, dass die eigentliche Absicht hinter diesem Eintrag nicht darin besteht, mich in der vordergründig intellektuellen Verschmähung der jüngsten Auswüchse der Kulturindustrie zu ergehen. Der merkliche Anstieg von Bullshit im Informationszeitalter lädt nämlich nicht nur zu pathetischen Schimpftiraden ein, sondern kann überdies als Indikator dafür geschwant werden, dass wir den richtigen Umgang mit Gleichgültigkeit verlernt haben. Sprach der griechische Philosoph Ariston von Chios noch „Das höchste Gut ist die Gleichgültigkeit“, bedeutet diese stoische Indifferenz dem grundanständigen Gutmenschen der Gegenwart einen sakrilegischen Zynismus. Nicht nur denke ich, dass diese sich im Auftrag der moralbewussten Empathisierung wähnende Verurteilung der Gleichgültigkeit einer realitätsfernen Auffassung der menschlichen Psychologie entspringt und eine dahingehend impraktikable Verhaltensmaxime suggeriert, sondern dass sie darüber hinaus verkennt, welch elementare Bedeutung Gleichgültigkeit für eine gelungene Lebensführung hat. Dabei möchte ich der Gleichgültigkeit nicht bloß das Wort reden, weil ich sie der aristotelischen Tugendlehre gemäß eingeübt und dadurch zu einem probaten Mittel meiner Alltagsbewältigung kultiviert habe. Denn ganz allgemein scheint mir ein erfüllendes Menschenleben einer gewissen Gleichgültigkeit nicht entbehren zu können. Die hohe Kunst besteht nicht in der moralinsauren Befolgung der bereits von Frankfurt bedachten gegenseitig auferlegten Pflicht, „Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen“, sondern in der introspektiven Reflexion der eigenen Indifferenzen. Mithin geht es darum, Rechenschaft vor sich selbst darüber abzulegen, auf welche Dinge man – den Vulgarismus möge man mir nachsehen – scheißt und auf welche nicht, sodass man hinter seiner Gleichgültigkeit stehen kann. Dies scheint nicht nur eingedenk der angedeuteten Beschränkung unseres kognitiven Fassungsvermögens angezeigt, sondern bildet überdies eine grundlegende Voraussetzung für einen selbstbestimmten Umgang mit den eigenen und in den effekthascherischen Digitalwelten heißumkämpften Aufmerksamkeitsressourcen.

Bei Lichte besehen offenbart sich Gleichgültigkeit nicht als amoralische Untat (oder eher Untätigkeit), sondern als kultivierbare Tugend, deren potenzielle Zuträglichkeit für die individuelle Lebensführung bereits von den stoischen Denkern der Antike erkannt wurde. Persönlich fände ich es höchst bedauernswürdig, wenn diese lebensphilosophische Einsicht von der lähmenden Flut belangloser Informationen und den penetranten Wellen an einlullenden Moralisierungsappellen fortgeschwemmt würde. Wusstet ihr übrigens, dass Bibi ihrem Exfreund auf Instagram entfolgt ist?

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